Von Sirup zu Champagner in einer Woche
Und dann sagt die 22-Jährige, die selbst eingefleischte Tennisfans kaum gekannt hatten, diesen Satz, nachdem das französische Publikum seit einem Vierteljahrhundert lechzt. «Ich hoffe zu gewinnen», betont Loïs Boisson am frühen Montagabend im vollgepackten Court Philippe Chatrier, dem Hauptstadion in Paris.
Wie bitte? Die Nummer 361 der Welt will das French Open gewinnen? Boisson hätte das eine Woche zuvor, vor dem Start ins Turnier, wohl kaum so gesagt. Nach dem Sieg im Achtelfinal gegen die Weltnummer 3 Jessica Pegula scheinen die Bäume urplötzlich in den Himmel zu wachsen. Analog zu ihrem Namen (auf deutsch: Getränk), hat sich Boisson in sieben Tagen von der Sirupkurve in die Champagneretage gespielt.
Kreuzbandriss vor einem Jahr
Sie schreibt damit ein echtes Tennismärchen und entschädigt sich damit für schwierige Monate. Anfang Mai vor einem Jahr stand sie an der Schwelle zu ihrem ersten Grand-Slam-Einsatz. Sie hatte drei ITF- und erstmals ein Challenger-Turnier gewonnen. Als damalige Nummer 152 der Welt hätte Boisson ebenfalls von einer Wildcard profitiert, ehe sie sich das Kreuzband im linken Knie riss. Mittlerweile sind nicht weniger als 23 Französinnen vor ihr klassiert, dennoch wurde sie von den Organisatoren erneut mit einer Wildcard bedacht. Und diesmal zahlt sie die Einladung mit Zinsen zurück.
In der 1. Runde setzte sich Boisson in drei Sätzen gegen die Nummer 24 Elise Mertens durch, in der 3. Runde gegen ihre Landsfrau Elsa Jacquemot und nun gegen Pegula ebenfalls. Gegen die Amerikanerin zitterte am Ende ein wenig das Händchen, doch die 22-Jährige aus Dijon überzeugt durch nie erlahmenden Kampfgeist, Mut und taktisches Geschick. Natürlich ist Pegula keine Sandspezialistin, aber eine siebenfache Grand-Slam-Viertelfinalistin, einmal davon 2022 in Paris, und Finalistin des letzten US Open. Boisson hingegen spielt ihr erstes Major, behielt in der heissen Schlussphase gleichwohl den kühleren Kopf und wehrte noch vier Breakchancen ab, als sie zum Match aufschlug.
Gesundes Selbstvertrauen
«Ich hatte das Selbstvertrauen. Ich wusste, dass ich das schaffen kann», zeigte sich die Französin am Ende selbstbewusst. «Ich wusste natürlich, dass sie super stark ist. Als ich dann aber spürte, dass es ein echter Match wird, habe ich alles reingeworfen.» Nun ist Boisson die erste Französin seit 2002, die als Wildcard-Empfängerin in den Viertelfinals steht. Ihre Vorgängerin ist Mary Pierce, doch die Voraussetzungen waren ganz andere. Pierce war ein grosser Star, hatte bereits das Australian Open 1995 und fünf Jahre später als bisher letzte Einheimische in Paris gewonnen.
2002 war sie im Ranking zurückgefallen, spielte sich aber ebenfalls in die Viertelfinals - wo sie von der späteren Siegerin Serena Williams 6:1, 6:1 vom Platz gefegt wurde. Das soll Boisson am Mittwoch nicht passieren - ungeachtet dessen, dass sie natürlich erneut die klare Aussenseiterin sein wird.
In den Spuren von Martina Hingis
Die Gegnerin ist erst 18 Jahre alt, kommt aus dem sibirischen Krasnojarsk und ist ebenfalls daran, Geschichte zu schreiben. Mirra Andrejewa ist die jüngste Spielerin seit Martina Hingis (1997 und 1998), die zwei Jahre in Folge die Viertelfinals des French Open erreicht. Im letzten Jahr war die damals ungesetzte Russin die grosse Überraschung des Turniers und wurde erst im Halbfinal von Jasmine Paolini gestoppt. Nun ist Andrejewa bereits die Nummer 6 der Welt und hat in diesem Jahr in Dubai und Indian Wells ihre ersten Masters-1000-Titel gewonnen.
Loïs Boisson wird das erstmal nicht kümmern. Sie wird erneut auf die Unterstützung von 15'000 enthusiastischen Fans zählen können. «Auf diesem Platz, mit dieser Ambiance - das ist einfach unglaublich», schwärmte sie am Montag. Das möchte sie natürlich nur zu gerne noch drei weitere Male - bis zum Final am Samstag - auskosten. Ein Sieg der Nummer 361 der Welt wäre wohl die grösste Sensation der Tennisgeschichte, noch vor Grand-Slam-Champions wie Gustavo Kuerten bei seiner Premiere in Paris oder Emma Raducanu am US Open vor vier Jahren.