Sepp Kuss als überraschender und umjubelter Sieger
Vor Vuelta-Beginn in der Kategorie der Edelhelfer geführt, nutzt der Amerikaner an der Spanien-Rundfahrt die Gunst der Stunde und fährt in Madrid als Gesamtsieger ein.
Die Szene ereignet sich am vergangenen Mittwoch auf dem Gipfel des Angliru. Sie illustriert perfekt, wie fest Sepp Kuss die Rolle als Helfer über die Jahre verinnerlicht hat, mit welcher Hingabe er sich seinen Team-Leadern unterordnet und dabei auch seine persönlichen Ambitionen zu opfern bereit ist.
Kuss also sitzt nach der äusserst anstrengenden Bergetappe, auf welcher er das Rote Trikot um wenige Sekunden zu retten vermochte, bereits auf dem Beifahrersitz des Team-Autos von Jumbo-Visma. Dieses soll ihn den Berg hinunter zum Hotel bringen. Da bemerkt der Amerikaner, wie sich Primoz Roglic nähert. Sofort öffnet der Träger des Leadertrikots die Tür und will aus dem Auto aussteigen, um dem Slowenen Platz zu machen.
Schliesslich ist dieser dreifacher Vuelta-Triumphator und war zudem heuer beim Giro d'Italia siegreich. Aber Roglic - bei Jumbo-Visma zusammen mit Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard an den grossen Rundfahrten der unangefochtene Leader - klettert auf den Rücksitz und ruft Kuss kurz «Nein, nein, bleib» zu.
Kuss: «Will nicht um jeden Preis gewinnen»
Er sei eben eher ein «Schattenmann und nicht unbedingt der Mensch, der um jeden Preis gewinnen will», sagt Kuss fast entschuldigend. Doch mit dem Leben im Schatten war es für den 29-Jährigen seit der 6. Etappe, die er aus einer fast 40 Fahrer umfassenden Ausreissergruppe solo gewann, vorbei. Das Teilstück mit der Bergankunft beim Observatorium von Javalambre sollte rückblickend im Kampf um den Gesamtsieg vorentscheidend sein.
Aufgrund einer Fehleinschätzung der Teamführung des damaligen Leaders Remco Evenepoel konnte Kuss ein Polster von fast dreieinhalb Minuten auf den Belgier herausfahren. Ähnlich viel Zeit büssten zwar auch Roglic und Vingegaard ein. Sie immerhin konnten sich damit trösten, dass einer ihres Teams in der Gesamtwertung weit vorne lag. Trotzdem gut möglich, dass die Jumbo-Leader nicht daran glaubten, dass ihr langjähriger Edelhelfer in den verbleibenden zwei Wochen so über sich hinauswachsen würde.
Die einmalige Chance gepackt
Kuss war bei allen Triumphen in grossen Landesrundfahrten von Roglic und Vingegaard in den Bergen von entscheidender Bedeutung. Zwar nicht der geborene Anführer, packte er in Spanien die wohl einmalige Chance, die sich ihm bot. Selbst im Zeitfahren, einer von ihm wenig geliebten Disziplin, verlor Kuss extrem wenig Zeit auf Evenepoel und Co. Und meint danach mit einem Augenzwinkern: «Ich durfte in einem Zeitfahren zum ersten Mal als Letzter starten, weshalb es auch das erste Mal war, dass mich niemand überholte.»
Auch nach dieser 10. Etappe in Valladolid und mit weiterhin solidem Polster auf die Topfavoriten mochte sich Kuss noch nicht wirklich mit dem Gesamtsieg befassen. Es sei zwar ein «schöner Vorsprung», aber das bevorstehende Programm sei schwierig und eine Minute sei schliesslich schnell verloren, so der ehemalige US-Champion im Mountainbike bescheiden.
Tatsächlich verlor Kuss, in der achten Saison als Strassen-Profi unterwegs, in der zweiten Hälfte der 78. Spanien-Rundfahrt noch in der einen oder anderen Etappe ein paar Sekunden auf die Konkurrenz. Das Polster schmolz, gerade hinauf zum Angliru, fast gänzlich dahin.
Baldiger Rollenwechsel zurück?
Doch am Ende behielt der «Adler aus Durango» aus dem US-Bundesstaat Colorado, der mittlerweile in Europa in vergleichsweise ähnlicher Höhe - in Andorra - sesshaft geworden ist, 17 Sekunden Vorsprung auf Jonas Vingegaard. «Er hat für mich und Primoz so viel geleistet. Ich bin zufrieden, mich revanchieren zu können», so der Däne.
Es ist wohl kein Prophet, der annimmt, dass sich die Situation schon bald wieder umkehren und Sepp Kuss zurück in die Rolle des Edelhelfers schlüpfen wird. Doch der erste Grand-Tour-Sieg eines Amerikaners seit 2013 (Chris Horner) wird in seinem Palmarès immer aufleuchten.