Jannik Sinner erster italienischer Wimbledon-Champion
Was für eine mentale Parforce-Leistung! Gut einen Monat nach dem herzzerreissenden Ende am French Open verscheucht Jannik Sinner gleich bei erster Gelegenheit seine Geister und revanchiert sich an Carlos Alcaraz. Nach ihrem epischen, fünfeinhalb Stunden langen Final in Paris wird das Endspiel beim Rasenklassiker aus anderen Gründen in die Geschichte eingehen. Der 22-jährige Alcaraz verlor in seinem sechsten Grand-Slam-Final erstmals, der 21 Monate ältere Sinner triumphierte nach zwei Australian Open und einem US Open erstmals auf einem anderen Belag als Hartplatz.
Am French Open hatte Sinner drei Matchbälle nicht nutzen können, ehe er in einem der besten Spiele aller Zeiten noch verlor. Diesmal zeigt der ehemalige Skifahrer kühles Blut bis zum Ende. Er schlägt deutlich besser auf als Alcaraz und ist von der Grundlinie mit seinen krachenden Schlägen fast unantastbar. Der Spanier kommt gar nie dazu, seine grössere Variabilität auszuspielen. Diesmal nutzt Sinner nach 3:04 Stunden seinen zweiten Matchball mit einem Aufschlag-Winner.
Ein besserer Spieler und ein besserer Mensch
«Das ist so speziell», sagt der Italiener an der Siegerehrung. Er hat seine Emotionen aber jederzeit unter Kontrolle - wie (fast) immer auch auf dem Platz. Er bedankt sich bei seinen Eltern und dem Bruder, die im Stadion sind und verspricht: «Ich arbeite mit meinem Team stets daran, ein besserer Spieler, aber vor allem auch ein besserer Mensch zu sein.» Ein solcher Erfolg in Wimbledon sei früher ein «nur sehr ferner Traum» gewesen. «Das ist so weit weg, wo ich herkomme.»
Schreckmoment im Achtelfinal
Im ersten Satz scheint die Partie noch einen ähnlichen Verlauf wie in Paris zu nehmen. Sinner führt in seinem ersten Wimbledonfinal 4:2, ehe er gleich zweimal seinen Service abgeben muss. Danach gesteht er Alcaraz erst bei 4:3 im vierten Satz noch einmal zwei Breakbälle zu. Selber nimmt er dem Spanier den Aufschlag im zweiten Satz zum 1:0, im dritten zum 5:4 und im vierten erneut zum 1:0 ab. Am Ende spielt er es - trotz der Geister von Paris - sehr cool zu Ende und schafft als erster Italiener, was Matteo Berrettini vor vier Jahren gegen Novak Djokovic verwehrt geblieben ist.
Sinner verdiente sich diesen vierten Grand-Slam-Titel auf der ganzen Linie. Im gesamten Turnier hatte er nur einen Schreckmoment zu überstehen. Im Achtelfinal gegen Grigor Dimitrov stürzte er im ersten Game auf den Ellbogen und geriet danach mit 0:2 Sätzen in Rückstand. Dann musste der Bulgare seinerseits mit einer Verletzung am Brustmuskel aufgeben. Ansonsten verlor er nur noch im Final einen Satz.
Lob von Alcaraz
Damit festigt der Italiener aus dem Südtiroler Bergdorf Sexten auch seine Position an der Spitze der Weltrangliste - und dies, obwohl er nach dem Gewinn des Australian Open eine dreimonatige Dopingsperre absitzen musste. Er weist nun mehr als 3400 Punkte Vorsprung auf Alcaraz auf (der Sieg bei einem Grand Slam bringt 2000). Das Duell zwischen den beiden dürfte auf absehbare Zeit weitergehen, sie sind sämtlichen Gegnern längst entrückt. Das Momentum könnte nun aber wieder in Richtung Sinner ausschlagen, er hatte den Spanier seit fast zwei Jahren nicht mehr bezwungen.
Alcaraz nimmt die Niederlage - wie zwischen den beiden üblich - sehr sportlich. In Wimbledon hatte er 20. Matches in Folge gewonnen, auf der ATP Tour seit April deren 24. Nun hatte er für Sinner nur Lob übrig. «Es ist immer schwierig zu verlieren», sagt er. «Aber es macht mich glücklich, mit dir auf dem Platz zu stehen. Und du bringst mich dazu, immer noch besser zu werden.»