Eine drückende, schmerzhafte Dominanz
Als hätten sie in der Mannschaft um Pogacar der Konkurrenz vor dem zweiten Ruhetag einen zusätzlichen Nadelstich versetzen wollen. Als wären sie darauf aus gewesen zu zeigen, dass es sich auch in einem Team siegen lässt, bei dem sich alles um einen Fahrer und dessen Sieg in der Gesamtwertung dreht, bei dem der Weltmeister das Sagen hat. Der belgische Meister Tim Wellens hat am Sonntag in Carcassonne den fünften Etappensieg für die vom Tessiner Mauro Gianetti geführten Mannschaft eingefahren. Für die ersten vier Erfolge bei der diesjährigen Tour hat Pogacar persönlich gesorgt.
Wellens' erfolgreicher Abschluss seiner Solofahrt im letzten Etappenteil hätte es für die Einschätzung der gegenwärtigen Situation nicht gebraucht. Die Meinungen waren selbstredend schon lange gemacht, Frust und Verzweiflung im Kreise der Gegnerschaft hatten sich schon zuvor breit gemacht.
«Wir haben das Gefühl, dass uns nur Brosamen übrig bleiben», sagt Cédric Vasseur, der Geschäftsführer des Teams Cofidis, gegenüber der französischen Zeitung «L'Équipe» stellvertretend. «Aber das ist die Realität im modernen Radsport, in dem ein dominierendes Team seine Stärke zu möglichst vielen Erfolgen zu nutzen versucht.» Der Franzose kann sich nicht an ein Team erinnern, das in derart krasser Form den Takt vorgegeben hat. Und das, obwohl mit João Almeida Pogacars Edelhelfer zu Beginn der letzten Woche verletzungsbedingt ausgeschieden und Pavel Sivakov krank gewesen ist.
«Sie machen alles platt»
Ein Blick zurück verdeutlicht die Annahme des einstigen Profis. In den Neunzigerjahren etwa war in der Equipe Banesto der Fokus uneingeschränkt auf Miguel Indurain gerichtet. Der Spanier gewann die Tour fünfmal. Gleiches galt für das Team US Postal mit dem später als Doping-Sünder entlarvten Amerikaner Lance Armstrong. Die Mannschaft Sky wiederum, die heute unter dem Namen Ineos-Grenadiers antritt, hatte mit dem Briten Chris Froome den überragenden Fahrer in ihren Reihen, gewährte den anderen Mannschaften aber auch Platz, um sich selber zu profilieren, Etappen zu gewinnen. Beim UAE Team Emirates sei das anders, stellt Jean-René Bernaudeau fest, der Chef des Teams TotalEnergies. «Sie haben einen unbändigen Appetit nach Siegen. Sie machen alles platt.»
Das UAE Team Emirates ist nicht nur leistungsmässig überragend, sondern auch in finanzieller Sicht der Krösus. 60 Millionen Euro sollen dem Primus pro Jahr zur Verfügung stehen, einige Beobachter der Szene gehen sogar von 80 Millionen aus. Die Fahrer der Equipe TotalEnergies am anderen Ende der Skala müssen sich mit einem Budget von 13 Millionen Euro wie Bettler vorkommen.
Das Spiegelbild der Saison
Die Dominanz von Pogacar und seinen Gefolgsleuten an der Tour de France kommt einem Spiegelbild der bisherigen Saison gleich. Bereits 65 Siege haben sie bisher errungen - und stehen auch diesbezüglich allein auf weiter Flur. Die Mannschaften Lidl-Trek und Soudal-Quick Step als Nummern 2 und 3 in dieser Statistik haben es auf 34 beziehungsweise 27 gewonnene Rennen gebracht.
Die krasse Dominanz zwingt die Konkurrenz zum Umdenken, zu Anpassungen etwa im Rennkalender. Sie haben Teilnahmen an weniger lukrativen Veranstaltungen in ihr Jahresprogramm aufgenommen. Das Sammeln von UCI-Punkten, die den Verbleib in der Kategorie World Tour sichern, oder, wie im Fall der Schweizer Equipe Tudor, den Aufstieg in die oberste Klasse bringen sollen, lässt ihnen keine andere Wahl.
Und bei der Tour de France? Da bleibt den Kontrahenten von Pogacar und Co. die Hoffnung, dass sich einzelne Etappen zu ihren Gunsten entwickeln, dass ihnen die Möglichkeit auf Siege geboten wird. Wellens hat es ihnen am Sonntag vorgemacht - wenn auch auf schmerzliche Art und Weise.