Ein Halbfinal als Gipfeltreffen
Mit viel Mühe schleppte er sich durch die erste Hälfte der Saison. Die Bilanz war für seine Verhältnisse miserabel, weil mit mehreren Niederlagen gegen teilweise krasse Aussenseiter versehen. Beim Turnier in Genf, das er wiederum kurzfristig als Vorbereitung auf das French Open in seinen Kalender aufgenommen hatte, dann aber der erhoffte Lichtblick. Novak Djokovic siegte auf der Anlage im Parc des Eaux-Vives, machte endlich die Hundert an gewonnenen ATP-Turnieren voll - und tankte zusätzliches Selbstvertrauen für die zweite Grand-Slam-Veranstaltung des Jahres.
Grand Slam! Zwei magische Worte für Djokovic. Die grosse Bühne ist die Welt des Serben. Da ist er bereit, da ist er imstande, sein ganzes Potenzial abzurufen. Da erreicht seine Motivation den Höchststand - egal, was zuvor gewesen ist. Diese Turniere sind mit ein Grund, dass Djokovic auch im Alter von 38 Jahren noch nicht von Rücktritt spricht.
Das Besondere fürs Besondere
«Bei diesen Events kann ich mich konzentrieren und wirklich mein Bestes geben. Gerade Spiele wie gegen Jannik (Sinner) sind für mich besondere Herausforderungen und holen auch das Besondere aus mir heraus», sagte Djokovic nach seiner beeindruckenden Vorstellung am Mittwochabend im Viertelfinal gegen den Deutschen Alexander Zverev. Nur zu gerne würde er seinen Rekord von 24 gewonnenen Major-Titeln ausbauen.
Ob es schon in diesen Tagen in Roland Garros klappt? Die nächste Hürde hat jedenfalls schon mal eine überdimensionale Grösse, und im Falle des Weiterkommens könnte der Kontrahent im Final nicht minder stark sein. Vorjahressieger Carlos Alcaraz ist im anderen Halbfinal gegen den aufstrebenden Italiener Lorenzo Musetti der logische Favorit. Djokovic weiss nur zu gut, was auf ihn am Freitag zukommt. «Jannik wird auf einem sehr hohen Niveau spielen - halt so, wie er es in den letzten anderthalb Jahren bei praktisch jedem Turnier getan hat. Ich erwarte nicht weniger von ihm.»
Djokovic und Sinner treffen zum neunten Mal aufeinander. Beide entschieden vier Duelle für sich. Die letzten drei gewann allerdings der Südtiroler. Auf Sand begegneten sie sich bisher erst einmal, vor vier Jahren beim ATP-1000-Turnier in Monte Carlo. Bei jenem Vergleich, dem ersten zwischen den beiden, behielt Djokovic klar die Oberhand. Es war die Zeit, als der Serbe die Nummer 1 der Welt war, Sinner sich dem Kreis mit den besten 20 Spielern näherte.
Vorsichtiger Favorit
Sinner hat die Rolle des Primus seit einem Jahr inne. An seinem Status hat auch die drei Monate dauernde Sperre wegen angeblichen Dopings in diesem Jahr nichts geändert. Sinner selber hat die Zwangspause offenbar auch nicht gross zugesetzt. Bei seiner Rückkehr ins Wettkampf-Tennis vor einem Monat beim Turnier in Rom hat er sich erst im Final von Alcaraz stoppen lassen.
Sinner wird für den Halbfinal vom Freitag als Favorit betrachtet. Der Italiener sieht das selbstverständlich etwas pragmatischer. Er, Djokovic, habe zuletzt bewiesen, dass er nach der Schwächephase wieder auf höchstem Niveau spiele. «Es wird schwierig. Seine Bilanz bei Grand-Slam-Turnieren sagt alles.»