Die zweite Chance für Simon Ehammer
Für den Appenzeller ist quasi eine elfte Disziplin hinzugestossen: Vor dem Mehrkampf muss er den Frust abschütteln. Der 4. Rang im Weitsprung nach einem Weltklasse-Flug war ein harter Schlag und vor allem ein Déjà-vu. An den Olympischen Spielen in Paris war es ihm gleich ergangen: Leere Hände nach sehr starkem Wettkampf.
Immerhin bietet Tokio dem 25-Jährigen die Chance, das Pech vom Mittwoch vergessen zu machen und nicht betrübt die Ferien antreten zu müssen. Eine Medaille im Zehnkampf würde der Modellathlet sogar höher gewichten als ein WM-Podest im Weitsprung. «Zehnkampf ist meine Leidenschaft», betont der Appenzeller immer wieder.
Ehammer kann erstmals seit der EM 2022 in München an einem Titelkampf im Zehnkampf antreten. Die Probleme mit der Schulter oder Terminkollisionen mit dem Weitsprung liessen ihn drei Jahre warten. Und seit drei Jahren ist dem Schweizer nie mehr ein Zehnkampf gelungen, der seinem Potenzial entspricht. Auch nicht zu Beginn dieser Saison in Götzis mit dem Schweizer Rekord von 8575 Punkten. Es kann Richtung 8700 Punkte und somit auch Richtung Medaille gehen.
Steigerung mit Diskus und Speer
Ehammers Problem: Neben herausragenden Disziplinen wie dem Weitsprung oder dem Hürdensprint muss er am zweiten Wettkampftag drei Sorgendisziplinen überstehen. Der Trainer Karl Wyler hört das Wort Sorgendisziplin nicht gern und verweist auf die Fortschritte: «Im Diskus hat er die 40 m im Griff, im Speer dürfen wir mit 60 m liebäugeln.» Und einen anständigen Ausdauerlauf bringe sein Schützling auch hin. «Wenn Simon an den Start geht, dann will er eine Medaille.»
Gemessen an der Saisonbestenliste sieht die Ausgangslage verlockend aus: Ehammer ist die Nummer 3 (8575). Zieht man allerdings die persönlichen Rekorde der einzelnen Athleten heran, ist der Schweizer bloss noch die Nummer 15. Aus diesen Zahlen lässt sich ableiten, dass es mit 8575 Punkten nichts zu gewinnen gibt. Bronze ging zuletzt für folgende Punktzahlen über den Tisch: 8649 (Olympische Spiele Tokio 2021), 8676 (WM 2022 Eugene), 8756 (WM 2023 Budapest), 8711 (Olympische Spiele Paris 2024).
Fernduell gegen Weltrekordhalterin
Ehammer wird für den Griff nach der Medaille nicht nur eine persönliche Bestleistung im Total liefern müssen, sondern auch in der einen oder anderen Disziplin. Beispielsweise im Hochsprung, bei dem er noch eine Scharte auszuwetzen hat. Vor einem Monat an der Medienkonferenz der Athletissima sass er neben der Ukrainerin Jaroslawa Mahutschich, die seit 2024 mit 2,10 m den Weltrekord im Hochsprung hält. Die süffisante Frage, ob er sich für seine persönliche Bestleistung mit 2,08 m nicht schäme, lag auf der Hand. «Es ärgert mich nicht übermässig», antwortete er diplomatisch. Es sei schön zu sehen, wie Spezialistinnen eine Disziplin ausreizen könnten.
Auf Nachfrage gestand er allerdings ein, dass er mit seinem Hausrekord nicht zufrieden ist: «Ich hätte mit meinem Körperbau die Chance, höher zu springen als der Frauen-Weltrekord. Dass ich das noch nicht geschafft habe, wurmt mich schon.»