Carlos Alcaraz klarer Favorit auf dritten Wimbledon-Sieg in Serie
Nach seiner Zweitrunden-Niederlage in Halle gibt Jannik Sinner zu, nach dem epischen French-Open-Final nun froh um ein paar freie Tage zu sein. Sein Bezwinger vor zweieinhalb Wochen? Carlos Alcaraz knüpft auf Rasen nahtlos an seine grandiose Sandform an und triumphiert beim Traditionsturnier im Londoner Queen's Club - zu seiner eigenen Überraschung.
«Ich kam ohne jegliche Erwartungen hierher», erklärt Alcaraz nach dem in über zwei Stunden erkämpften Finalsieg gegen Jiri Lehecka. «Mein Ziel war es, zwei oder drei Matches zu spielen, mich an die Beinarbeit auf Rasen zu gewöhnen und zu schauen, woran ich noch arbeiten muss.» Die Antwort: eigentlich an nichts. Der 22-Jährige aus der südspanischen Provinz Murcia wird am kommenden Montag als haushoher Favorit ins Turnier in Wimbledon steigen und ist auf bestem Weg, erneut Geschichte zu schreiben.
In den Spuren der grossen drei
Etwas bange blickte die Tenniswelt auf das Ende der Ära der «Big 3» mit den Jahrhundertspielern Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic. Nach seinen beiden Finalerfolgen gegen Djokovic in den letzten zwei Jahren könnte Alcaraz zum erst fünften Spieler in der Profiära (seit 1968) werden, der den Rasenklassiker dreimal in Folge gewinnt, nach dem Serben (viermal von 2018 bis 2022), Roger Federer (fünfmal von 2003 bis 2007), Pete Sampras (dreimal von 1993 bis 1995 sowie viermal von 1997 bis 2000) und Björn Borg (fünfmal von 1976 bis 1980). Im letzten Jahr wurde er auch der erst sechste Mann nach Djokovic, Federer, Nadal, Borg und Rod Laver, der das Sommer-Double Paris/Wimbledon im gleichen Jahr gewann. Mehr als einmal gelang dies bisher nur Borg und Nadal.
Auffallend: Nach durchzogenen drei Monaten zum Start zur Saison mit Niederlagen gegen Djokovic, Lehecka, Jack Draper und David Goffin startete Alcaraz erst mit der nahenden Rückkehr von Sinner nach dessen dreimonatiger Dopingsperre so richtig durch. Als ob er die Konkurrenz durch seinen ersten Herausforderer und einzigen derzeit noch vor ihm platzierten Spieler gebraucht hätte. Seit Beginn der Sandsaison steht Alcaraz bei 27 Siegen und nur einer Niederlage, Mitte April in Barcelona im Final gegen Holger Rune. Da war der Spanier angeschlagen und liess in der Folge schweren Herzens das zweite Heimturnier in Madrid aus.
Kompletter als Federer oder Nadal
Das riesige Potenzial von Alcaraz, der in diesem Alter der komplettere Spieler ist, als es Federer, Nadal oder Djokovic waren, zeigte sich schon in der Saison seines Durchbruchs 2022, als er unter anderem das US Open, die Turniere in Miami und Madrid gewann und die jüngste Weltnummer 1 der Geschichte wurde. Bei Alcaraz stimmt alles, das Talent, die Physis, der Spielwitz, die mentale Stärke, die Ausstrahlung - eine noch kaum je gesehene Kombination all der Faktoren, die einen überragenden Tennisspieler ausmachen. Das grösste Fragezeichen war und ist die Gesundheit. Sein explosives Spiel macht ihn verletzungsanfällig.
Doch Alcaraz scheint gelernt zu haben, dass regelmässige Pausen essenziell sind. Nach dem Halbfinal in Indian Wells schaltete er einen kurzen Ferientrip nach Cancun an der mexikanischen Riviera ein. Nach dem emotional wie physisch äusserst kräfteraubenden Fünfeinhalbstunden-Marathon im Final von Roland Garros zog es Alcaraz für ein paar Tage nach Ibiza.
Freude am Tennis wieder gefunden
«Das war der Schlüssel», stellt der Spanier nun fest. «Einfach fünf, sechs Tage abschalten, ohne den Schläger in die Hand zu nehmen oder auf einem Tennisplatz zu stehen. Nach den Ferien mit der Familie in Cancun fand ich den Spass wieder und freute mich wieder darauf, Tennis zu spielen.» Es ist die richtige Balance, die ein junger Spieler erst finden muss - und die der Fan von Real Madrid zusammen mit seinem Coach Juan Carlos Ferrero zunehmend besser findet.
Da der Rasenauftakt derart gut geklappt hat, kann es Alcaraz nun auch diese Woche ziemlich ruhig angehen lassen. «Nicht nochmal nach Hause zurück», meint der Spanier lachend. «Aber ich hoffe, ein wenig London geniessen zu können.» Ab Montag gilt es ernst, wenn er als Titelverteidiger um 13.30 Uhr auf dem Centre Court das Turnier eröffnet.