Kay Matter und Nora Osagiobare lesen um den 49. Bachmann-Preis
Im Vorfeld gilt bei diesem Fernseh-Wettlesen, das in der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises gipfelt, strengste Geheimhaltung. Bekannt ist einzig, wer dieses Jahr um die insgesamt sechs Preise konkurriert. Die Reihenfolge der Lesungen hat das Los entschieden: Kay Matter wird am Freitag um 14.30 lesen, Nora Osagiobare ist am Samstag um 10.00 an der Reihe. Über die Inhalte der nominierten Texte kann nur spekuliert werden.
Einzig die Jury kennt im Vorfeld alle Texte und der eine oder die andere wird sich schon überlegt haben, was es Schlaues dazu zu sagen gibt, um sich besonders zu profilieren. Denn in diesem Fernsehwettbewerb geht es, wie bei vielen Castingshows, auch um die Profilneurosen des einen oder anderen Jurymitglieds.
Drei von insgesamt sieben dieser Jurymitglieder haben einen Schweiz-Bezug: die SRF-Literaturclub Moderatorin Laura de Weck, der Literaturkritiker Philipp Tingler und der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle. Beide Schweizer Texte für die diesjährigen 49. Tage der deutschsprachigen Literatur werden auf Einladung von Strässle gelesen.
«Witz, Drive und sehr gute Dialoge»
Ihm seien Matter und Osagiobare auch dank ihrer kürzlich erschienenen Bücher «Muskeln aus Plastik» (2024) beziehungsweise «Daily Soap» (2025) aufgefallen, sagt er gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «In beiden Fällen ist die literarische Qualität sowie die thematische Relevanz herausragend, deshalb freue ich mich, mit diesen Texten in Klagenfurt anzutreten», so Strässle. Er habe diese beiden Stimmen aus rund 150 bis 200 Einreichungen ausgesucht. Strässle hat sich in den letzten Jahren als eines jener Jurymitglieder gezeigt, dem es wahrscheinlich am meisten um die Texte und am wenigsten um das eigene Profil geht.
«Witz, Drive und sehr gute Dialoge» machen für ihn Nora Osagiobares Text aus. In ihrem klugen Debüt «Daily Soap» verpackte die Zürcher Autorin Gesellschaftskritik in den Look-and-Feel einer Seifenoper mit viel bitterbösem Humor. Diesen überspitzten Ton habe sie auch für ihre Lesung in Klagenfurt beibehalten. Doch diesmal diene ihr ein Reality-TV-Setting zur Milieustudie. Erzählen wird eine POC-Erzählerin (Person of Color) aus Zürich von einer Vater-Tochter-Beziehung. Dabei gehe es um Rassismus, um Freundschaft und auch um emotionale Kälte. Osagiobare verrät der Nachrichtenagentur Keystone-SDA ausserdem, dass sie extrem gerne aus der Perspektive von rücksichtlosen Frauenfiguren schreibe, «weil Frauen in unserer Gesellschaft lieb und nett sein sollen. Und weil in der Literaturgeschichte die bösen Frauen leider viel zu selten von Autorinnen geschrieben werden».
Kay Matter ist formal selbst überrascht vom eigenen Text. Es sei eigentlich «eine klassische Kurzgeschichte», so Matter im Gespräch mit Keystone-SDA. Bisher bewegte er sich gerne an Genregrenzen, schreibt fürs Theater oder autofiktionale Essays, wie zuletzt in «Muskel aus Plastik». Hier sucht Matter feinfühlig und mit einer angenehmen Selbstironie essayistisch nach einer Sprache für einen nicht mitteilbaren Schmerz und für all jene Situationen, wo Überforderung, Unwissen und Vorurteile in unserer nichtbehinderten, normativen Mehrheitsgesellschaft das Sprechen verhindern.
In einer ähnlich unsicheren Situation beginnt auch der Text für Klagenfurt: «Dieser Text verhandelt nicht nur innerhalb der Geschichte, sondern auch formal das Spannungsfeld von Verstecken und sich zu erkennen geben, von Zeichen, die je nach Gegenüber unterschiedlich gelesen werden», so Matter. Und Strässle verrät, es sei ein «elegischer Text über Codes, kleine Gesten und Haltungen; über eine Figur, die sich neu definiert. Ein sehr wichtiges Thema unserer Gegenwart».
Kritischer Blick aufs Fernsehformat
Matter und Osagiobare haben beide den Ruf, aktuell zu den interessantesten neuen Stimmen der deutschsprachigen Literatur zu zählen. Sie treten mit sehr unterschiedlichen Texten an zum Wettlesen um insgesamt fünf Preise. Dabei sehen beide das Fernsehformat eher kritisch.
Für Matter ist dieser Wettbewerb aber auch eine «Plattform für meine Themen und meine Positionen. Am Ende sind es 25 Minuten live auf ORF und 3Sat». Osagiobare, die selbst Setting, Rollen und Erzählweisen solcher Formate in ihren Texten dekonstruiert, erzählte unlängst an den Solothurner Literaturtagen von einem Albtraum zu Klagenfurt. Im Traum wurde ihr Text massiv verändert: «In der ausgedruckten Version im Fernsehstudio standen plötzlich Wörter, von denen ich nicht wusste, wie ich die aussprechen sollte. Ich wurde so wütend, dass ich während der Lesung irgendwann den Mittelfinger in die Kamera zeigte. Das Publikum fand das alles lustig, nur eine Frau beschwerte sich über mein unprofessionelles Outfit. Sie selbst trug einen Badeanzug.»
Bewertung ist Teil des Konzepts. Dass die Jury die Texte im Vorfeld ausführlich analysieren kann, lässt die Live-Diskussion für das Fernsehpublikum sehr bildungsbürgerlich-elitär wirken. Oft verliert sich die Jury in Details und Fachgeplänkel. Zum andern wurde die Jurydiskussion in den vergangenen Jahren zunehmend polemisch: Juroren versuchen die eigenen Kandidaten zu loben, die von andern zu vernichten und selbst durch Pointen aufzufallen. Was davon tatsächlich spontan und eigene Kompetenz ist, sei dahingestellt. So sind die Texte zwar sehr aktuell und relevant. Das Format hingegen sollte sich ändern, wenn es relevant bleiben soll.*
*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert