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Debütromane, die zwischen Wahn und Wirklichkeit pendeln

Literatur

Debütromane, die zwischen Wahn und Wirklichkeit pendeln

18. September 2025, 07:24 Uhr
Die Schriftstellerin Malwina Ledniowska hat mit ihrem Debütroman «Keine Sorge alles gut» ein feinsinniges Kammerspiel geschrieben, das sich in der Psychiatrie abspielt.
© HANDOUT/VERLAG DIE BROTSUPPE/Aneta Ledniowska-Schmidt
Mal nüchtern und abgeklärt, mal sinnlich flirrend oder gar abgehackt mitten im Satz: Autorinnen gehen in ihren Debütromanen unterschiedlich mit Sprache um. Auch die Erzählperspektive variiert stark. Eine Auswahl neuer Debüts, die von grossen Lebensthemen handeln.

MALWINA LEDNIOWSKA, «KEINE SORGE ALLES GUT»: Wenn Romi Weber den Stress aufkommen spürt, macht sie ihre Atemübung: Tief einatmen, dann etwa doppelt so lang wieder ausatmen. Romi Weber arbeitet in einer psychiatrischen Klinik. Da ist sie ständig gefordert und dementsprechend oft muss sie bewusst atmen. In ihrem Roman «Keine Sorge alles gut» begleitet Malwina Ledniowska Romi Weber auf einer Nachtschicht. Dabei nimmt sie die Perspektive des Hauses ein, das als eine Art allwissender Erzähler auftritt und die Leserschaft im Halb- und Viertelstundentakt durch die Nachtschicht führt, als wäre die Klinik eine Bühne.

Im Zentrum dieses Kammerspiels steht Jana, eine Patientin, die am Tag zuvor Suizid begangen hat. Romi Weber versucht ihre Schicht so gut wie möglich zu beenden, obwohl ihre Gedanken ständig um den überraschenden Tod der jungen Patientin kreisen, schwankend zwischen Schuldgefühlen und professioneller Distanz. Mal teilt die «professionelle Leidtragende», wie das Pflegepersonal genannt wird, ihre Gedanken, dann wiederum wechselt die Perspektive zu jener des beobachtenden Hauses oder eines Patienten. Und je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr melden sich Zweifel, ob diesem erzählenden Haus wirklich zu trauen ist.

Die Autorin arbeitete selbst einige Jahre in der Pflege. In ihrem vielschichtigen Debütroman wirft sie denn auch einen geschärften, kritischen und gleichzeitig originell-humorvollen Blick auf den Alltag in einer Psychiatrie. Ihre Erzählweise ist temporeich, atemlos und ganz im Dienst der Geschichte: Manche Sätze bleiben unbeendet. Genauso, wie auch im Pflegeberuf oft angefangene Aufgaben warten müssen, weil plötzlich Dringenderes ruft.

KATINKA RUFFIEUX, «ZU WENIG VOM GUTEN»: Was ist echt schweizerisch? Für die Ich-Erzählerin in «Zu wenig vom Guten» ist es Ende der 1970er-Jahre Skifahren, nicht Auffallen und ein Sparschwein haben, das alle sechs Monate zur Bank gebracht wird. So tut die Jugendliche alles, um dazuzugehören, um «Schweizerin» zu sein und das «Andersartige» abzuschütteln.

Obwohl sie in der Schweiz geboren ist und Ungarn nur vom Hörensagen kennt, fühlt sie sich fremd: Die Wohnung, das Essen der Mutter, die Geschichten des Grossvaters, die Sprache, das Geld, alles ist anders als bei den anderen. Katinka Ruffieux erzählt in ihrem Debütroman von einer ungarischen Familie, die versucht, Krieg und Verlust hinter sich zu lassen und in der Schweiz neue Wurzeln zu schlagen.

Als der Grossvater stirbt und die Familie bald darauf auseinanderbricht, beginnt die Schwester immer mehr zu rebellieren, während die Ich-Erzählerin versucht, durch Anpassung und Pflichterfüllung die Familie irgendwie zusammenzuhalten. Katinka Ruffieux schreibt in abgeklärt ruhigem, fast nüchternem Tonfall von einer verzweifelten Suche nach Identität und Halt, wenn das Gefühl von Heimat fehlt - und davon, wie es ist, wenn der Klang des Nachnamens darüber entscheidet, welche Türen im Leben wie weit offenstehen.

IRIS KELLER, «WALWERDUNG»: «Ich bin ein Mensch, der sich neu zusammensetzt», sagt die Ich-Erzählerin einmal. Die Schwangerschaft widerlegt alles, was sie bisher über ihren Körper dachte. Ein Körper, den sie plötzlich nicht mehr für sich allein hat. Sie fühlt sich wie ein Wal und schaut sich alle Wal-Dokumentationen an, die sie finden kann.

In «Walwerdung» von Iris Keller erlebt die Erzählerin Schwangerschaft, Geburt und das Muttersein als überfordernd, existenziell bedrohend, wunderschön und irritierend - als eine grundlegende Veränderung auch der Paarbeziehung: «Und jetzt bemerke ich: Mein Partner hat einen männlichen Körper. Er kann laufen, er kann heben, sich bücken, seine Brüste sind entspannt, er muss nicht ständig pinkeln. Er kann schlafen, er kann trinken, er kann rauchen. Wegbleiben bis mitten in der Nacht. Das gemeinsame Projekt trennt uns, entfernt uns voneinander. Ich habe meinen Körper weggegeben und ich erwarte, dass er es genauso tut. Aber sein Körper bleibt wie zuvor.»

Der Roman ist gespickt mit Einschüben zu Walen und Gedanken über die Biologin und Autorin Rachel Carson, über die die Ich-Erzählerin, eine freischaffende Journalistin, einen Artikel schreiben will. Iris Keller verknüpft die verschiedenen Ebenen elegant miteinander und beweist dabei ein feines Gespür für Timing. Ihre Schilderungen, etwa von der Geburt, sind drastisch und ungeschönt. Und genau deshalb lesenswert.

LOUISA MERTEN, «HUNDESÖHNE»: Ginny arbeitet in einem Tierheim, wo misshandelte und ungewollte Tiere ein Zuhause finden - niemand wird hier abgewiesen. Doch es ist kein schöner Ort: Der «Lösch», wie das Tierheim genannt wird, ist düster, schmutzig, voller Haare und Kot. Die «Seelen» der Tiere «fallen auseinander», wie Ginny einmal feststellt.

Auch die junge Frau selbst fällt innerlich zunehmend auseinander: Eines Tages glaubt sie, einen Mann als ihren unbekannten Vater zu erkennen. Sie folgt ihm bis in sein Haus und beginnt ihn zu beobachten. Ab da verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Traum. Was Natur, was Mensch und was Tier ist, wird mehr und mehr unklar. Klar ist nur, dass es keinen Ausweg und kein Zurück gibt.

In «Hundesöhne» erzählt die Autorin Louisa Merten vom Verlorensein und dem Wunsch, die eigene Geschichte zu kennen. Ginny stösst auf der Suche nach Wahrheit jedoch alles von sich, was ihr Orientierung bieten könnte. Gekonnt verwebt die Autorin Erinnerung, Gegenwart und Fantasie miteinander, ihre Sprache ist dicht, bildreich und sinnlich - es klingt, riecht und schmeckt förmlich aus den Seiten. Das ist oft fesselnd und gleichzeitig unangenehm wie ein Fiebertraum. Für ihren Debütroman wurde Louisa Merten 2024 mit dem ersten «Chrysalide - Binding Förderpreis für Literatur» ausgezeichnet. Mit dem Preis für die deutschsprachige Schweiz wird alle zwei Jahre ein Prosadebütmanuskript ausgezeichnet.

WEITERE AKTUELLE DEBÜTS:

Karin Rey: «Karat». Roman. Atlantis Literatur, Zürich 2025, 208 Seiten. Gebunden 30.90 Franken (UVP)

Katrin Müller: «Jetzt bloss nicht heulen». Roman. Rotpunktverlag, Zürich 2025, 240 Seiten. Gebunden 30.00 Franken (UVP)

Franziska Meister: «Der Geruch von Lehm». Roman. Zeitkind Verlag, Meilen 2025, 256 Seiten. Gebunden 30.00 Franken (UVP)

Islème Sassi: «Von jenen, die Jagen». Roman. Zeitkind Verlag, Meilen 2025, 182 Seiten. Gebunden 26.00 Franken (UVP)*

*Dieses Listicle von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Quelle: sda
veröffentlicht: 18. September 2025 07:24
aktualisiert: 18. September 2025 07:24