Timothé Mumenthaler greift über 100 und 200 m an
«Wer ist Timothé Mumenthaler?» lautete vor gut einem Jahr um Mitternacht im Olympiastadion von Rom die erste Frage in der Medienrunde an den Überraschungs-Europameister über 200 m. «Ich habe einen Hunger nach grossen Events, ich liebe die grossen Chancen, ich habe Ambitionen, ich will die Leute inspirieren», sagte er damals.
So ganz stimmte die Selbsteinschätzung im Nachhinein nicht. Zu diesem Zeitpunkt ahnte der Genfer nicht, was der Goldlauf in ihm auslösen würde. Der Erfolg macht nicht nur Appetit auf mehr. Er bringt auch Verpflichtungen, Druck, lässt einen kaum innehalten.
In 20 Sekunden war Mumenthaler in Europa ganz oben angekommen. Aber es sollte für ihn schwierig werden, damit umzugehen. Veranstalter, Medien, Sponsoren, die Olympischen Spiele bereits vor der Tür, der Wunsch, die Schallmauer von 20 Sekunden zu durchbrechen: Es ging alles viel zu schnell, um die Dinge überhaupt zu fassen. Blues statt Genuss nach dem Gold-Coup. Der EM-Titel in Rom hatte sich 2024 auf den ganzen Rest der Saison negativ ausgewirkt.
2025 meldet sich der 22-Jährige mit leiseren Tönen, aber persönlichen Bestzeiten zurück. Der Mikrotechnik-Student der EPFL in Lausanne senkte am Diamond-League-Meeting in Oslo seine persönliche Bestzeit über die halbe Bahnrunde auf 20,27 Sekunden. In der Königsdisziplin 100 m ist er mit 10,13 Sekunden in der ewigen nationalen Bestenliste hinter Alex Wilson und Silvan Wicki auf Platz 3 vorgestossen. Und auch die Leistungen am Dienstag in Luzern mit einem Doppelstart über 100 und 200 m fielen nach einem Trainingsblock vielversprechend aus. Ohne die Vorbelastung wäre die persönliche Bestzeit über die halbe Bahnrunde gefallen.
Aufwärtstrend ist erkennbar
Es geht wieder aufwärts. Neben den 200-m-Rennen will Mumenthaler heuer auch über 100 m angreifen. Die leichten Verletzungen, die ihn von der Hallensaison abhielten, sind verheilt. Aus dem Studium nimmt er zugunsten des Spitzensports etwas Tempo raus, auf der Bahn legt er an Schnelligkeit zu. Auf die 200 m habe er in den letzten zwei Jahren vor allem wegen der besseren Perspektiven gesetzt. Doch hat er ein bisschen genug davon, wie er in Luzern betont: «Seit ich klein bin, will ich über 100 m der Schnellste sein, das ist die Disziplin meines Herzens.»
Sein Coach Kevin Widmer widerspricht ihm in einem Artikel der NZZ nicht: «Timothé ist mit seinem enormen Speed der geborene 100-m-Läufer». Zudem könnten die beiden kurzen Sprint-Strecken gar nicht einzeln betrachtet werden. Wer über 100 m schnell sein wolle, müsse auch die 200 m trainieren und umgekehrt.
Lange Saison
Während 2024 mit der EM Anfang Juni und den Olympischen Spielen Ende Juli die Saisonhöhepunkte schon früh Schlag auf Schlag folgten, ist dieses Jahr die Dramaturgie umgekehrt. Das Highlight mit den Weltmeisterschaften in Tokio bildet Mitte September den Abschluss. Die lange Saison, das Warten auf den Titelkampf, kann belasten - körperlich und mental. Aber Mumenthaler scheint nach dem Blues nun gewappnet zu sein. Denn die Goldmedaille hat nicht nur belastet, sie hat auch sehr viel Selbstsicherheit gegeben, um im Spitzensport zu bestehen!