USA: Deal in Reichweite - Israel aber weiter unnachgiebig
Nach Angaben der US-Regierung steht ein Deal zu 90 Prozent. «Der Deal hat insgesamt 18 Absätze. 14 dieser Absätze sind fertig», sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter. Neben einer israelischen Truppenpräsenz im Gazastreifen seien allerdings auch die Bedingungen für einen Austausch von israelischen Geiseln und palästinensischen Häftlingen bisher nicht gänzlich geklärt. Die Hamas forderte erneut, mehr Druck auf Netanjahu auszuüben.
Aussenministerin Annalena Baerbock brach mit klaren Forderungen an den Verbündeten Israel zu einer zweitägigen Nahost-Reise auf. Erneut verlangte die Grünen-Politikerin, alle Anstrengungen auf einen humanitären Waffenstillstand zu richten, der zur Befreiung der Geiseln führe und das Sterben beende. «Es gibt weder für Gaza noch die Lage im Westjordanland eine militärische Lösung», betonte sie vor den Krisengesprächen in Saudi-Arabien, Jordanien und Israel an diesem Donnerstag und Freitag.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erhebt indes schwere Vorwürfe gegen die israelische Armee wegen der Zerstörung landwirtschaftlicher Flächen und Häuser.
Israels Premier hält am Philadelphi-Korridor fest
Israels Ministerpräsident Netanjahu machte am Mittwochabend in Jerusalem erneut klar, dass er an einer dauerhaften Präsenz israelischer Truppen am sogenannten Philadelphi-Korridor festhalten werde. Dabei handelt es sich um einen etwa 14 Kilometer langen Streifen an der Grenze des Gazastreifen zu Ägypten, dessen Kontrolle nach Netanjahus Darstellung gewährleisten soll, dass die Hamas keine Waffen in den abgeriegelten Küstenstreifen schmuggeln kann. «Die Räumung des Philadelphi-Korridors trägt nichts zur Freilassung der Geiseln bei», sagte er vor internationalen Medien.
Bei dem Angriff der Hamas und anderer islamistischer Gruppen am 7. Oktober 2023 auf Israel waren mehr als 1.200 Menschen getötet und etwa 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt worden. Israel reagierte darauf mit Luftangriffen und einer Bodenoffensive in Gaza. Nach israelischer Zählung sind noch 101 Menschen in der Hand der Hamas. Wie viele von ihnen noch leben, ist unklar.
Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas, bei denen neben den USA auch Katar und Ägypten vermitteln, um eine Waffenruhe und eine Freilassung der Geiseln zu erreichen, kommen seit Monaten nicht voran.
Der US-Regierungsvertreter betonte, im Abkommen werde der Philadelphi-Korridor nicht explizit erwähnt. Vorgesehen sei darin aber der Rückzug des israelischen Militärs aus allen dicht besiedelten Gebieten im Gazastreifen, und es sei zu einem Streit darüber gekommen, ob der Philadelphi-Korridor dazu gehöre. «Aufgrund dieser Meinungsverschiedenheit haben die Israelis in den vergangenen Wochen einen Vorschlag unterbreitet, mit dem sie ihre Präsenz in diesem Korridor erheblich reduzieren würden», betonte er. Erst in der zweiten Phase des Deals sei ein kompletter Abzug der israelischen Kräfte vorgesehen.
Netanjahu: Hamas darf sich nicht über Grenze bewaffnen
Netanjahu stellte das vor den Medienvertretern anders dar. Man möge ihm «irgendjemanden» bringen, der effektiv gewährleisten könne, dass sich die Hamas über die Gaza-Ägypten-Grenze nicht erneut bewaffnet, sagte er. Dann könne man über einen Abzug des israelischen Militärs reden. «Aber ich sehe das nicht kommen, und solange das nicht kommt, bleiben wir dort», fügte er hinzu.
Kritiker werfen Netanjahu vor, die strategische Bedeutung des Philadelphi-Korridors überzubewerten, um das Zustandekommen einer Waffenruhe zu verhindern. Sie gehen davon aus, dass Netanjahus rechtsextreme Regierungspartner Zugeständnisse an die Hamas ablehnen und seine Koalition zum Platzen bringen könnten. Netanjahu bestreitet, davon beeinflusst zu sein.
«Wir brauchen keine neuen Vorschläge», teilte indes die Hamas auf ihrer Webseite mit. «Jetzt gilt es, Druck auf Netanjahu und seine Regierung auszuüben und sie zur Einhaltung der Vereinbarungen zu zwingen.» Netanjahu dürfe die Verhandlungen nicht verzögern, «um die Aggression gegen unser Volk zu verlängern.»
Auch Mitglieder des UN-Sicherheitsrates drängten Israel und die Hamas zu einer Einigung über eine Waffenruhe. «Wir wissen, dass der beste Weg, die verbleibenden Geiseln zu retten und das Leid der palästinensischen Zivilisten zu lindern, ein ausgehandelter Waffenstillstand ist», sagte die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield.
Amnesty erhebt Vorwürfe gegen israelische Armee
Amnesty International wirft dem israelischen Militär derweil vor, nach Erlangung der Kontrolle im östlichen Gazastreifen systematisch landwirtschaftliche Flächen und Tausender Häuser in diesem Gebiet zerstört zu haben. Dieses Vorgehen, eine «Pufferzone» entlang der östlichen Abgrenzung des besetzten Gazastreifens erheblich auszuweiten, müsse als Kriegsverbrechen untersucht werden, fordert die Menschenrechtsorganisation. Eigene Recherchen zeigten, dass es sich dabei möglicherweise um die Kriegsverbrechen der mutwilligen Zerstörung und Kollektivbestrafung handele. Das israelische Militär rechtfertigt den Abriss von Gebäuden im Gazastreifen unter anderem damit, dadurch Tunnel und andere terroristische Infrastruktur zu zerstören.
Ermordete Geisel im Hamas-Propagandavideo
Die Angehörigen einer in der Vorwoche ermordeten Geisel stimmten derweil der Veröffentlichung eines Videos zu, das die Hamas kurz vor dem Tod der 40-jährigen Carmel Gat zu Propagandazwecken mit ihr angefertigt hatte. Darin fordert sie die Israelis auf, für ein Waffenruheabkommen zu demonstrieren. «Während wir sie nicht retten konnten, können wir immer noch die anderen Geiseln retten. Wir brauchen dringend einen Deal jetzt, bevor es zu spät ist», sagte ihr Cousin Gil Dickmann. Gat war zusammen mit fünf anderen Geiseln - vier Männer und einer Frau - von Terroristen der Hamas erschossen worden. Israelische Sicherheitskräfte hatten ihre Leichen wenige Tage danach in einem Tunnel gefunden.
Gewalt der Besatzer radikalisiert junge Generation
Baerbock warnte vor ihrer Nahost-Reise vor einer weiteren Eskalation der Gewalt im besetzten Westjordanland. Israel hatte vergangene Woche eine grossangelegte Militäraktion im nördlichen Westjordanland begonnen. Ein israelischer Armeesprecher begründete das Vorgehen mit einer deutlich gestiegenen Zahl von Anschlägen auf Israelis. Zugleich nahm die Gewalt extremistischer israelischer Siedler im Westjordanland zu. Die Lage in dem seit 1967 besetzten Gebiet hat sich seit Beginn des Gaza-Kriegs deutlich verschärft.